«Engadiner Capuns statt belgische Fritten»
Wim Rossel ist Rennleiter der Damenwettbewerbe an den Skiweltmeisterschaften 2017. Wie sein Name verrät, kommt er aus keiner klassischen Skination. Wir haben ihn an seinem Sommerarbeitsplatz am St. Moritzersee besucht und gefragt, wie es dazu gekommen ist.
Gibt es Belgier überhaupt? Im Süden leben die Wallonen, die Französisch sprechen, und im Norden die Flamen, die Niederländisch reden. Darüber hinaus ist Deutsch eine offizielle Amtssprache. Eins ist jedenfalls sicher: Belgien ist keine sprichwörtliche Skination. Zu weit weg der Schnee, zu nahe die Nordsee. Umso erstaunlicher, dass Wim Rossel in Brügge aufwächst, einen Katzensprung vom Meer entfernt. Sein Vater ist Schullehrer und organisiert jedes Jahr Skilager in den Alpen. Wim darf als kleiner Junge jeweils mit, lernt so Skifahren und die Berge lieben. Zuhause in Brügge darf er ausnahmsweise vor dem Fernseher zu Mittag essen, wenn Skiweltcuprennen übertragen werden. Seine Helden damals: Pirmin Zurbriggen, Alberto Tomba und natürlich Marc Girardelli, der für das benachbarte Luxemburg startet. Als 18-Jähriger fährt Wim auch mal nur für ein Wochenende 1'000 Kilometer nach Kitzbühel, um das legendäre Abfahrtsrennen live zu sehen. Nicht verwunderlich, dass er später die Skilehrerausbildung in Angriff nimmt. Schliesslich möchte er sich nach dem Studium einen Bubentraum erfüllen: eine Wintersaison in den Bergen als Skilehrer arbeiten. Er meldet sich 1999 bei Club Med, wo ihn das Destinationsroulette nach St. Moritz schickt. Kaum angekommen, lernt er nach ein paar Tagen seine Frau kennen.
"Der Rest hat sich dann ergeben", meint der sympathische Belgier, der längst den Schweizer Pass hat. Letzteres schon fast zwangsläufig, denn als er 2007 das erste Mal als Rennleiter für die St. Moritzer Skiweltcuprennen tätig ist, will ihn sein Chef und Ressortleiter Martin Berthod auf den offiziellen FIS-Papieren nicht als Belgier anmelden und schreibt das Kürzel „SUI“ hinter seinen Namen. Heute kann Wim nur darüber lachen, schliesslich fühlt er sich schon längst als Schweizer, der belgische Fritten gegen Engadiner Capuns eingetauscht hat. Dank dem St. Moritzersee und seinem Sommerjob als Leiter der Segelschule St. Moritz ist auch seine Nostalgie nach dem heimischen Meer nicht mehr so gross: "Wasser war schon immer mein Element, ob in flüssiger oder gefrorener Form. Jetzt habe ich das Glück, meine zwei Lieblingssportarten Segeln und Skifahren mit dem Beruf verbinden zu können, besser geht es gar nicht.""Wasser war schon immer mein Element, ob in flüssiger oder gefrorener Form. Jetzt habe ich das Glück, meine zwei Lieblingssportarten Segeln und Skifahren mit dem Beruf verbinden zu können, besser geht es gar nicht."
Dass St. Moritz nicht nur fürs Skifahren, sondern auch fürs Segeln ein Hotspot ist, verdankt der Ort dem Malojawind, der zuverlässig wie eine Schweizer Uhr jeden Mittag im Tal aufkommt. Mehrere Weltmeisterschaften in verschiedenen Bootsklassen haben im Engadin schon stattgefunden. Und in Weltmeisterschaften, das weiss man, kennen sich die Einheimischen aus. Die Ski-WM 2017 ist bereits die fünfte ihrer Art im Engadin und die zweite für Wim Rossel. 2003 war Wim noch als Skilehrer im Rutschkommando tätig, das den berühmtberüchtigten Männerabfahrtsstart "der freie Fall" präpariert hat. 2017 wird er als Rennleiter der Damenrennen knapp 300 Leute unter sich haben. Er fungiert dabei als Schnittstelle zwischen der FIS-Rennjurie, in der er selbst Einsatz nimmt, und dem Personal, das auf der Piste arbeitet. Von der Pistenpräparierung über die Sicherheitsmassnahmen bis zu den Zutrittskontrollen läuft alles über sein Ressort. Ein weiter Sprung für einen, der von der Nordsee losgezogen ist, um eine Saison als Skilehrer zu erleben. Und so fühlt sich Wim manchmal immer noch wie ein kleiner Junge aus Brügge, der in einer völlig fremden Welt zu Hause ist. Wie letzthin, als er an einem Kurs des Internationalen Skiverbands FIS den Kollegen und ehemaligen Spitzen-Skirennläufer Werner Franz nicht erkannt hat. "Ich habe ihn gefragt, wer er sei, da konnte sich Franz ein Schmunzeln nicht verkneifen..."
Von Fabrizio D’Aloisio, St. Moritz